Was heißt hier „Talent“?

16.12.2015

Charles Bukowskis, soll gesagt haben: „Die meisten Menschen werden als Genie geboren, aber als Idioten beerdigt.“ Würde man dieser Annahme folgen, würde das unter anderem bedeuten, Erziehung, Bildung, Alltag und Gleichmacherei machen Talente „kleiner“ als sie in Wirklichkeit sind. Das würde andererseits aber auch unterstreichen, dass jeder gesunde Mensch Begabungen und Kreativität mit in die Wiege gelegt bekommen hat, die er ausbilden kann, wenn er will. – Diese Interpretation gefällt mir und da setzt auch mein Coaching an.

Gehen wir mal davon aus, dass die Gene, die angeborenen Begabungen allein, nicht dafür ausreichen, anerkannter Spitzensportler, Opernsänger, preisgekrönter Schauspieler, Schriftsteller, Wissenschaftler, Künstler etc. zu werden, wird deutlich, dass Bukowskis Sichtweise, so einfach auf den Punkt gebracht, viel Spielraum lässt. Ich sehe es so: Wenn wir uns die einzelnen Faktoren anschauen, die zur erfolgreichen Talentausbildung bei jungen Menschen führen, wird uns isolierte Betrachtung nicht weiter helfen bei der Talentförderung. Weder die Anlagen, noch die Erziehung, noch die Bildung richten jeweils allein etwas aus. Soweit wahrscheinlich nichts Neues und es gibt gewiss eine Unmenge kluger Köpfe, die sich weiter mit dieser Systemdynamik und der Bedingtheit untereinander beschäftigen. Hier setzt ja auch die systemische Therapie an. Aus meiner Sicht entsteht Harmonie dann, wenn alles halbwegs im Einklang ist, vernetzt verbunden ist und ein bisschen abgestimmt funktioniert. Ein Idealzustand, der nicht zu erreichen ist, klar. Fest steht für mich trotzdem: Das Ganze ist eben viel mehr als die Summe seiner Teile.

Ich stelle natürlich nicht in Abrede, dass es eminent ist, über Frühförderung und sehr gute Wissensvermittlung viel nachzudenken, denn hier werden wichtige Grundsteine gelegt. Auch das Elternhaus ist natürlich elementar wichtig, allerdings sollte es nicht isoliert betrachtet werden, auch wenn es von einigen Lehrern gern mal zur alleinigen Verantwortung herangezogen wird, falls etwas schief geht. Spätestens wenn der Nachwuchs in die KiTa geht, erzieht die „Umwelt“ nun mal mit. Ich glaube, dass gelebte Talentbildung viel mit Charakterstärkung und Eigenverantwortung zu tun hat. – Kinder und junge Erwachsene müssen dabei und dafür Fehler machen dürfen, sie müssen lernen mit Niederlagen und Siegen umzugehen, sie müssen einfach vieles üben und ausprobieren dürfen, sich anstrengen und ihre Schlüsse daraus ziehen. Denken wir mal an Kleinkinder, die mit Bausteinen spielen oder Laufen lernen. Da geht meist alles wie von selbst. So gesehen hat Charles Bukowskis Recht! Alle brauchen klare Vorbilder im Umgang mit dem „Alltäglichen“, im Umgang mit Werten sowie mit sinnvollen Regeln. – Das ist auch unterstützende Erziehung und BILDUNG! Ich bin davon überzeugt, dass sich gesunde junge Menschen, wenn sie Freiraum haben, sie in ihrem Tun bei Erfolg und Misserfolg Unterstützer finden, immer wieder aufstehen und weiterlaufen. Sie lassen sich durchaus für ihre wahren Neigungen im positiven Sinne begeistern und werden sich ein Stück weit „aufopfern“, da sie noch mehr wissen und erleben möchten. Das ist dann selbstgelebte Talentförderung aus sich selbst heraus. Sie sind dann im positiven Sinne unzufrieden mit dem bereits erreichten, was wiederum ihren gesunden Ehrgeiz weiter erhöht. Ihre Zugewandtheit zu einer Sache allein fördert ihr schöpferisches Tun und im nächsten Schritt ihr gesundes Selbstbewusstsein. So entwickelt sich selbstverständlich das Talent weiter, denn das Beschäftigen mit der Sache hat ihnen Freude gemacht. Die Anerkennung von außen kommt hinzu. Hürden werden als überwindbar und als „nicht so schlimm“ und viel eher als Herausforderung wahrgenommen, wenn etwas leidenschaftlich verfolgt wird.

Nun mag es ja die großen Ausnahmetalente geben, denen alles in den Schoß gefallen ist, aber mal ehrlich, die sind doch wirklich sehr selten! Alle anderen Menschen verfolgen zäh ihr Ziel, wenn sie davon überzeugt sind, dass es richtig ist. Anstrengung und Freude stehen nebeneinander.

Ich bin nur Begleiter und Unterstützer als Coach und kein Pädagoge, kein Lehrer, sehe mich auch nicht mehr in der Rolle der „Erziehungsberechtigten“. All diese Akteure haben einen anderen begründeten, wichtigen Blickwinkel auf Talentförderung. Ich weiß aber sehr sicher, dass Schulstress, so genannte Helikoptereltern oder Eltern in der ausschließlichen Rolle des Kinderfreizeit- und Förderprogrammgestalters und alle jene, die genau wissen, was allein für ihren Nachwuchs richtig und wichtig ist, manchmal vergessen, dass diese auch einfach ein bisschen Spaß, Spontanität, Normalität, Unterstützung und schlicht gute Vorbilder brauchen, um sich selbst und ihre Talente zu entfalten. Das sagt mir mein gesunder Menschenverstand. Fehlt im Alltag inzwischen dafür gelegentlich der Freiraum und Rahmen?